Hiroyuki YAMAGUCHI
Zunächst möchte ich mich bei den Organisatoren herzlich bedanken, daß mir die Gelegenheit gegeben wurde, hier im Tateshina-Symposium ein Referat zu machen, und zwar vor dem Publikum, das an der Kulturwissenschaft ein besonderes Interesse hat.
Das Thema meines Referats "Was ist Kulturwissenschaft?" bzw. "Was sind Kulturwissenschaften?" war einer der Titel, die mir die Organisatoren im voraus gezeigt hatten, und ich habe es deshalb gewählt, weil ich mich seit zwei, drei Jahren eben mit diesem Thema beschäftige. Es ist natürlich unmöglich, innerhalb einer halben Stunde über ein so umfassendes, und bisher so viel diskutiertes Thema angemessen zu sprechen. Trotzdem bemühe ich mich, die Hintergründe und einige Grundpositionen der Diskussionen um die Kulturwissenschaft zusammenfassend darzustellen. Dabei möchte ich aber einen in der Kulturwissenschaftsdebatte bis jetzt anscheinend nur wenig beachteten Punkt akzentuieren, nämlich einen Zwiespalt zwischen der nationalen (d. h. deutschen) Identität und dem Anspruch auf die Internationalität in der Kulturwissenschaft. Die Position, die ich hier einnehmen werde, mag - trotz des umfassenden Titels meines Referats - vielleicht von den Hauptströmungen der Diskussionen um die Kulturwissenschaft abweichen, sie kann so ein bißchen provokativ sein. Und in diesem Sinne verstehe ich auch unter dem Titel "Was ist Kulturwissenschaft?" nicht einen einführenden Vortrag, sondern wörtlich die Frage, was ist es denn, as als Kulturwissenschaft verstanden wird.
In diesem Referat beziehe ich mich zu grossen Teilen auf die Ausführungen vom Prof. Böhme. Darüber hinaus beschränkt sich mein Wissen vor allem auf meine Lektüre, d.h. ich hatte bisher keinen direkten Kontakt mit kulturwissenschaftlichen Einrichtungen. Daher hoffe ich, daß ich im Anschluß manchen Hinweis auf irrtümliche oder unpräzise Annahmen meinerseits erhalten kann.
Zuerst möchte ich in der ersten Hälfte Hintergründe und einige Grundpositionen der Diskussionen um die Kulturwissenschaft skizzieren. Das meiste wird Ihnen vertraut sein, aber damit soll kurz auch die Diskussionsbasis abgesteckt werden. Der Terminus Kulturwissenschaft selbst wurde bekanntlich schon unter den Neukantianern benutzt, aber der Begriff, worum es jetzt geht, ist seit den 80er Jahren als eine alternative Möglichkeit für die jetzt diskreditierten Geisteswissenschaften in den Vordergrund getreten, wobei man allerdings auch ihre Begriffsgeschichte bei den Neukantianern ins Auge faßt. Dabei galt als Voraussetzung der Diskussion die "Sackgassensituation" oder die "Krise der Geisteswissenschaften", die sich auf die folgenden zwei Punkte zusammenfassen läßt:
1) die Geisteswissenschaften haben sich in ihrem wissenschaftlichen System so sehr in einzelne Disziplinen spezialisiert und zersplittert, daß sowohl die Möglichkeit zum Dialog als auch die Einheit verloren gingen. Damit wurde auch die Kluft zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und "Bildung", mit der man die Persönlichkeit bilden sollte, immer tiefer. Ähnliches gilt auch beim Zwiespalt zwischen der Wissenschaft und der Berufspraxis, und so sehen sich nun die Geisteswissenschaften - hier zitiere ich Hans Robert Jauß - "vor die Aufgabe gestellt, die Kluft zwischen Theorie und Praxis, Literatur und Alltag, Spiel und Arbeit, akademischer Freiheit und bürgerlicher Verantwortung zu überbrücken, kurzum, ihre kommunikative, identitäts- und konsensbildende Funktion zu erneuern" (GW heute, 70).
2) Beim zweiten Punkt geht es um die Erkenntnis, daß die deutschen Geisteswissenschaften hinter den internationalen Entwicklungen der humanities zurückbleiben. (Hier sind besonders die in Frankreich und Amerika gemeint.) Hier möchte ich nochmals ein treffendes Wort von Jauß zitieren: "Daß die Geisteswissenschaften die Herausforderung der modernen Welt nicht aufnahmen und sich nur noch vergangenheitsbezogen als Hüter der klassischen oder nationalen Tradition verstanden, war der hauptsächliche Grund der Diskreditierung, in die sie sowohl in den USA als auch in Deutschland in den 60er Jahren gerieten." (GW heute, 68)
Mit dieser Erkenntnis des Status quo haben einige Geistes- und Sozialwissenschaftler der Universität Konstanz auf Anregung des Wissenschaftsrates und der Westdeutschen Rektorenkonferenz ein Forschungsprojekt durchgeführt, dessen Abschlußbericht sich in Form von der Denkschrift "Geisteswissenschaften heute" gestaltet. Die beiden Zitate von Jauß sind auch aus dieser Denkschrift. Übrigens, die Positionen, die in "Geisteswissenschaften heute" formuliert werden, gelten wahrscheinlich jetzt noch als die der DFG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, da Wolfgang Frühwald und Jürgen Mittelstraß, also zwei der vier Autoren dieser Denkschrift, in der DFG eine zentrale Rolle spielen. Zumindest zielt die Richtung, die die Autoren der "Geisteswissenschaften heute" von der Kulturwissenschaft erwartet, auf die genannten zwei Probleme der Geisteswissenschaften. Erstens werden - angesichts der Zersplittertheit und der Dialogslosigkeit der Disziplinen der Geisteswissenschaften - die grenzüberschreitenden, integrativen und dialogischen Fähigkeiten der Kulturwissenschaften hervorgehoben, die eigentlich den Geisteswissenschaften innewohnen, aber sich eben in den Kulturwissenschaften als der "Neubestimmung der Geisteswissenschaften" (GW heute, 47) verwirklichen sollten. Dieser Anspruch ist uns auch unter dem Schlüsselwort "Inter- bzw. Transdisziplinarität" bekannt. Und zweitens wird das andere Schlüsselwort für die Kulturwissenschaften, die "Internationalität", angesichts der Rückständigkeit der deutschen Geisteswissenschaften beansprucht.
Und was ich hier besonders in die Diskussion bringen möchte, ist der letztere Punkt, d. h. die "Internationalität. Hier ließe sich auch das Schlüsselwort "Modernisierung" hinzufügen, mit dem die beiden Ansprüche auf die Kulturwissenschaft verstanden werden sollten. Denn mir scheint nicht ganz überzeugend, ob oder inwieweit die Kulturwissenschaft in ihren wissenschaftstheoretischen Diskussionen wirklich "international" oder "modern" positioniert wird. Diese Frage ist aber vielleicht nicht so einfach zu beantworten, denn es gibt verschiedene institutionelle Formen, die unter dem gleichen Namen der "Kulturwissenschaft" bzw. "Kulturwissenschaften" entstanden sind, aber durchaus verschiedene Ansichten über die Kulturwissenschaft repräsentieren. So kommt man hier zum Ausgangspunkt zurück: "Was ist die Kulturwissenschaft?" In diesem Zusammenhang möchte ich nun einige Positionen oder Begriffe der Kulturwissenschaft überblicken.
In den Diskussionen um die Kulturwissenschaft sind zahlreiche Positionen zu unterscheiden, aber hier möchte ich die folgenden drei repräsentativen Typen aufgreifen.
(1)
Mit dem Begriff im weitesten Sinne versteht man die Kulturwissenschaft als eine disziplinenübergreifende Kategorie, die aber nicht eine Einheit darstellt, sondern ein integrativer Oberbegriff, der als "Modernisierung" oder "Neubestimmung der Geisteswissenschaften" verschiedene Disziplinen darunter faßt. Deshalb sollte man diesen Begriff im Grunde im Plural als "Kulturwissenschaften" bezeichnen wie bei den Geisteswissenschaften. Diesen Standpunkt vertreten besonders die Autoren der "Geisteswissenschaften heute", und nach ihnen gelten die Kulturwissenschaften in dem Sinne als die modernisierte Version der Geisteswissenschaften, insofern sich die Kulturwissenschaften sowohl durch Inter- bzw. Transdisziplinarität und als auch durch Internationalität auszeichnen. Hier hat man vielleicht auch den Eindruck, daß es sich da nur um eine Umbenennung der Geisteswissenschaften in die Kulturwissenschaften handelt. Was hier mit "Kultur" verstanden wird, ist alles, was sich auf verschiedene Kulturbereiche bezieht, d. h., was man an sich zum Gegenstand der bisherigen Geisteswissenschaften machte. Gleiches hätte man also auch unter dem Namen der "Geisteswissenschaften" betreiben können, aber wichtig war natürlich, den Terminus "Geisteswissenschaften" zu vermeiden, also den Terminus, der mit der deutschen Tradition dieser Bereiche allzu tief verbunden ist. Wolfgang Frühwald, einer der Autoren der "Geisteswissenschaften heute" und damals der Präsident der DFG, spricht einmal in einem Zeitungsartikel davon, daß er sich in der Arbeitsgruppe der DFG zusammen mit anderen Mitgliedern lange überlegt habe, ob das Wort "Geisteswissenschaften" gestrichen werden sollte, weil man auch in Deutschland einen international zugänglichen Begriff braucht, der z. B. humanities oder science de l'homme entspricht. Und er denkt, "Kulturwissenschaften" sei momentan die beste Bezeichnung dafür.
Die Schlagworte "Internationalisierung" oder "Modernisierung" sollen Gewähr dafür sein, sich aus der "Sackgassensituation" herauszufinden, indem man auch den Paradigmenwechsel des Kulturbegriffs in Betracht zieht. Aber interessanterweise kann man hier gleichzeitig feststellen, daß die Autoren der Denkschrift "Geisteswissenschaften heute" in ihrem Begriff der Kulturwissenschaft immer noch an einer nationalen (deutschen) Identität - oder, wenn man so will, an einer Art Glaube an die deutsche Tradition - festhalten. Das manifestiert sich besonders deutlich darin, daß die Autoren die Position vertreten, mit den Kulturwissenschaften als der "Neuorientierung der Geisteswissenschaften" die Idee der Universität von Wilhelm von Humboldt neu beleben zu wollen. So wird doch die deutsche Tradition unter dem Namen der Kulturwissenschaften, die sich an der Modernisierung und der Internationalisierung orientieren sollten, beibehalten. "Kulturwissenschaften" können dann nur deutsche Kulturwissenschaften sein.
Damit will ich aber nicht behaupten, daß deutsche Elemente von den Kulturwissenschaften völlig ausgeschlossen werden sollten. Es geht nur darum, daß das Paradigma und auch die Mentalität der "Geisteswissenschaften" im Begriff der Kulturwissenschaften in "Geisteswissenschaften heute" ganz eindeutig weiterlebt.
(2)
In der Denkschrift "Geisteswissenschaften heute" gelten die Kulturwissenschaften, wie wir jetzt gesehen haben, als ein wissenschaftlicher und institutioneller Oberbegriff, unter dem im Prinzip alle Disziplinen der Geistes- und auch Sozialwissenschaften zu integrieren sind. Aber in der Wirklichkeit ist in den Diskussionen um die Kulturwissenschaft eine Tendenz zu erkennen, daß man selektiv bestimmte Disziplinen als "Kulturwissenschaften" betrachtet. Übrigens gibt es im Gegenteil auch Disziplinen, die in einigen Universitäten institutionell als kulturwissenschaftliche Fächer eingeordnet sind, doch in den Kulturwissenschaftsdebatten kaum behandelt zu werden scheinen, wie Musik- oder Kunstwissenschaft. Das liegt vielleicht daran, daß diese Fächer von Haus aus außerhalb der Paradigmatik der Schrift im medientheoretischen Kontext liegen und sich als solche kaum geändert haben, wenn sie auch unter "Kulturwissenschaften" firmieren.
Aber zurück zur Sache: als die in den Diskussionen um die Kulturwissenschaft besonders häufig behandelten und in diesem Sinne wichtigen Disziplinen möchte ich hier die folgenden nennen: 1) Volkskunde bzw. Empirische Kulturwissenschaft oder Europäische Ethnologie, 2) Literaturwissenschaften, näherhin: Germanistik und 3) Medienwissenschaft.
In diesem zweiten Fall des Begriffs können die Kulturwissenschaften sozusagen als eine Sammlung derjenigen Disziplinen verstanden werden, die inzwischen als "kulturwissenschaftlich" institutionalisiert worden sind. Aber hier gehen die Begriffsbestimmung und die Institutionalisierung Hand in Hand. Es läßt sich vermuten, daß eine Disziplin erst nach der Institutionalisierung als die Kulturwissenschaft echt "kulturwissenschaftlich" wird. Aber wenn man auf diese Weise aufgrund der äußerlichen Tatsachen die Konturen der Kulturwissenschaften zeichnen will, stößt man doch noch auf Schwierigkeiten mit der Definition des Begriffs. Je nach der Universität, die kulturwissenschaftliche Einrichtungen hat, gibt es erhebliche Unterschiede, welche etablierte Disziplinen institutionell in die "Kulturwissenschaften" eingeordnet sind, und dazu noch, ob die als "Kulturwissenschaft" verstandene Einrichtung ein Fachbereich , ein Institut oder ein Seminar ist.
Die Position, die ein Autor in den Kulturwissenschaftsdebatten einnimmt, hängt maßgeblich davon ab, zu welcher kulturwissenschaftlichen Institution er gehört, oder wenn seine Disziplin institutionell noch nicht (oder noch nicht völlig) als "Kulturwissenschaft" gilt, aus welcher etablierten Disziplin her er den Blick auf die Kulturwissenschaft richtet. Für die Germanistik, zum Beispiel, wird die Kulturwissenschaft hauptsächlich nur aus ihrer Sicht verstanden und für die Empirische Kulturwissenschaft heißt die Bezeichnung "Kulturwissenschaft" eben ihre Disziplin. So kann sich auch die Situation ergeben, daß die Diskussionen um die Kulturwissenschaft weiterlaufen ohne gemeinsame Einverständnisse darüber, was "kulturwissenschaftlich" ist. Für die etablierten Disziplinen sind zudem jeweils ihre eigenen Gegenstände, Methoden und Traditionen entscheidend, wobei die Kulturwissenschaft schließlich nur eine sekundäre Rolle spielt, die man für die "Modernisierung" der Disziplin in Anspruch nimmt.
Folglich sind Positionen, die der Kulturwissenschaft nur eine sekundäre, ergänzende Bedeutung beimessen, keine Seltenheit. Ich möchte hier allerdings eine eigenständige Position der Kulturwissenschaft hervorheben, denn eben darin sind meines Erachtens die anfangs genannten Ansprüche von Kulturwissenschaften wirklich zu erfüllen.
(3)
Diese Position verkörpert sich vielleicht am deutlichsten im dritten Typ der Kulturwissenschaft, nämlich der "Kulturwissenschaft im Singular", d. h. einer Einzeldisziplin, die unter anderen Herr Hartmut Böhme vertritt, besonders auch im Zusammenhang mit seinem eigenen Seminar für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Es ist zur Zeit vielleicht die einzige Einrichtung, die als die "Kulturwissenschaft im Singular" gilt. (Ich weiß nicht, ob das Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig dazu mitgezählt werden kann.)
Bei dieser institutionellen Form geht es natürlich nicht nur um das Ausmaß der Einrichtung, sondern der Begriff der "Kulturwissenschaft" kann damit einen anderen Charakter haben als bei den Kulturwissenschaften im Plural. Besonders zu nennen wären die folgenden Punkte:
Mit der Kulturwissenschaft im Singular entsteht erst eine eigene Fachdisziplin, die sich nicht vom Standpunkt einer bestimmten etablierten Disziplin aus, sondern davon unabhängig mit der Kulturtheorie und den wissenschaftstheoretischen Problemen befaßt.
Kulturwissenschaft im Singular scheint demnach eine günstigere Ausgangsposition für die "Metaebene der Reflexion" (Böhme/Scherpe, 12) zu haben, die man von der Kulturwissenschaft erwartet.
Sie ist als eine von Traditionen unbelastete Disziplin naturgemäß offener für die "Modernisierung" und "Internationalisierung". Eben in ihr sind nämlich die Gegenstände, die in den etablierten Disziplinen nicht richtig behandelt worden sind, wie Pop- oder Medienkultur, am rechten Ort. Wenn man sich auch mit deutschen Kulturphänomenen beschäftigt, schafft man im Idealfall Ansätze, die das ehemalige Paradigma der Geisteswissenschaften relativieren.
Diese Tatsache kommt allerdings nicht unbedingt von ihrem Begriff selbst her, sondern so hat sie sich ergeben, vielleicht weil man das wollte und weil das als aktuelle Angelegenheit nötig war. Das heißt, was Kulturwissenschaft ist, hängt in hohem Grade auch von der äußeren Tatsache ab, worauf man den Schwerpunkt legt. Hier kommt es besonders auch darauf an, worauf sich das Interesse der Studenten richtet, welche Gegenstände oder Themen sie für aktuell und bedeutend halten. Hier wird der Begriff und somit vielleicht auch die Institution selbst nachträglich von den Fakten umgebildet. Das soll auf keinen Fall kritisch verstanden werden, sondern als ein sehr interessantes und wichtiges Phänomen, das man bei den Überlegungen über die die Wechselwirkung zwischen dem Begriff und der Institution nicht übersehen darf.
Die oben genannten drei Punkte, die auf ihrer institutionellen Eigenschaft beruhen, dürfte man vielleicht als Stärke der Kulturwissenschaft im Singular ansehen. Aber eben diese neu erworbenen Charaktere haben gleichzeitig ihre negative Seite. Ich meine hier Kritik an der Kulturwissenschaft, die man in den Kulturwissenschaftsdebatten oft hört. Ich möchte hier als ein typisches Beispiel eine Glosse von Bollenbeck zitieren, die auch im Buch von Herrn Böhme zitiert ist: "Die Kulturwissenschaften lassen sich nicht auf bestimmte Objektbereiche, Theorien oder Methoden festlegen. In der Vieldeutigkeit liegt aber auch eine Gefahr: Wer glaubt, in ihrem Namen die Eigenlogik und das Forschungsniveau des jeweiligen Fachs ignorieren zu können, dessen Generalismus wird sich als Dilettantismus erweisen. <KuWi> wäre dann das Label einer Unterhaltungsdisziplin, die auf methodische Genauigkeit, exakte Kenntnisse und kritische Reflexionsformen verzichtet (....)" Solche skeptische Einwände werden eigentlich auf die Kulturwissenschaft im allgemeinen gerichtet, im Zitat wird der Begriff in der Tat im Plural genannt, aber sie scheinen besonders auf die Kulturwissenschaft im Singular zuzutreffen, denn man hat wohl den Eindruck, daß man sich unter dem Dach einer einzigen Disziplin mit einer schillernden Vielfalt an Themen und beliebigen Theoriezusammenhängen befaßt. Dem muß aber nicht so sein. Als Generalist muß man nicht alles beherrschen, was im Rahmen der Kulturwissenschaft behandelt werden kann, sondern man beschäftigt sich mit bestimmten Gegenständen, deren Problemzusammenhängen und Theorien, je nachdem, was man machen will.
Wenn man Kulturwissenschaft so als eine Disziplin bestimmt, die hauptsächlich nur gegenwärtige Kulturphänomene zum Gegenstand macht, so beschränkt sich der Begriff aber allzu eng und stimmt mit den Kulturwissenschaften im Plural kaum überein. Auf der anderen Seite braucht man doch eine bestimmte Disziplin, in der man Pop- und Medienkultur sowie ihre theoretischen Zusammenhänge behandeln kann. Dafür bräuchte man aber vielleicht eine andere Bezeichnung.
Wenn man in dieser Richtung den Ansprüchen der Modernisierung und der Internationalisierung gerecht werden will, dann scheinen zwei Bereiche von besonderer Bedeutung zu sein, nämlich Medienwissenschaften und Cultural Studies, die ich nun in diesem Zusammenhang hervorheben möchte. Aber wegen zeitlicher Beschränkung kann ich jetzt je nur ein Paar Punkte als Ansätze der Diskussion berühren.
Im Forschungsbereich der "Medienwissenschaft" lassen sich hauptsächlich zwei Richtungen unterscheiden: Zum einen ethnographische Forschungen, die sich z. B. mit der Rezeption der Medien beim Publikum oder mit der Textanalyse eines Fernsehdramas beschäftigen, wie man sie oft im Rahmen der Cultural Studies oder Kultursoziologie macht. Zum anderen eine eher philosophische Richtung, in der man die Beziehung der technischen und materiellen Bedingungen der Medien zu der Art und Weise, wie man wahrnimmt, erkennt und denkt, zur Sache macht und damit über das Paradigma der jeweiligen Kulturstufen reflektiert, die durch die entsprechenden Medien bestimmt werden. Kulturwissenschaft schließt beides in sich, aber hier möchte ich im Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel, um den es auch in den Diskussionen um die Kulturwissenschaft geht, die letztere aufgreifen.
Kulturwissenschaft steht nicht einfach deswegen mit der Medienwissenschaft in enger Beziehung, weil sie auch neue Medien zum Forschungsgegenstand macht, sondern weil die beiden die Möglichkeit haben, einen erkenntniskritischen Blick auf das Paradigma der etablierten Disziplinen zu richten. Wenn man in dieser Hinsicht die Geisteswissenschaften erfaßt, kann man sie als das verstehen, was im Grunde auf dem Paradigma der Schriftkultur entsteht. Denkt man im Rahmen der etablierten Disziplinen ihr Verhältnis zur Kulturwissenschaft, wie man es eben in den Kulturwissenschaften im Plural macht, werden Gegenstände wie Filme, Comics oder Werbungen mit dem Paradigma der Schriftmedien und mit den Werten der Schriftkultur zu begreifen versucht. Aber für die Beschäftigung mit den genannten Medien braucht man im Gegenteil ein anderes Paradigma, das der Medienstufe entspricht. Die Medienwissenschaft bereitet der Kulturwissenschaft in diesem Zusammenhang eine entscheidende Reflexionsbasis.
Allgemein gesprochen versuchen die Kulturwissenschaft und die Cultural Studies im deutschsprachigen Raum, gegenseitig Abstand zu nehmen und damit ihr eigenes Territorium zu wahren.
Auf der Seite der Kulturwissenschaft ist es relativ selten, daß man über die Cultural Studies diskutiert. Man bekommt den Eindruck, daß sich die Kulturwissenschaft so verhält, als hätte sie mit den Cultural Studies nichts zu tun, obwohl beide wissenschaftliche Ergebnisse nach der sogenannten semiotischen Wende sowie nach dem Perspektivenwechsel des Kulturbegriffs übernehmen und mit inter- bzw. transdisziplinären Ansätzen Kultur zum Gegenstand machen.
Demgegenüber scheinen sich die Beteiligten an den Cultural Studies im deutschsprachigen Raum immer der Rivalität gegenüber der Kulturwissenschaft deutlich bewußt zu sein. Bei der Entwicklung der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum sehen sie sich mit spezifischen Schwierigkeiten konfrontiert, auf die sie deswegen stoßen, weil sie eben im akademischen Milieu in Deutschland oder &OUML;sterreich Cultural Studies machen. Als solche Schwierigkeiten werden in einigen Aufsätzen und Berichten gemeinsam vor allem die Tradition der Kritischen Theorie und die Kulturwissenschaft genannt. Andreas Hepp, der Autor des Buchs "Cultural Studies und Medienanalyse", betont ausdrücklich, Cultural Studies seien "ungleich" der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, sie seien auch "ungleich" Kulturwissenschaft, und das Nicht-Berücksichtigen dieser "Ungleichheiten" habe mitunter zu erheblichen Mißverständnissen in der deutschen Rezeption der Cultural Studies geführt. (Hepp, 99) Aber seine Abwehr scheint auch daran zu liegen, daß er mit Kulturwissenschaft besonders Volkskunde und die berufsbesogene Richtung im Auge faßt. (Eine Definitionsfrage.) In diesem Zusammenhang sagt er auch im selben Buch, es gebe zwar durchaus ernsthafte Versuche der inhaltlichen Definition einer deutschen Kulturwissenschaft jenseits eines Verständnisses von Kulturwissenschaft als "berufsbezogene Geisteswissenschaft", aber diese Ansätze stünden erst am Anfang. Er scheint hier Kulturwissenschaft mit einer allzu engen Definition zu begreifen, aber davon abgesehen, kann man sein letztes Wort auch positiv verstehen, d. h., die Möglichkeit einer Zusammenarbeit oder eventuell sogar einer Fusion mit Cultural Studies ist nicht unbedingt ausgeschlossen.
Das wäre allerdings auch eine enge Definition der Kulturwissenschaft. Besonders Kulturwissenschaften im Plural, d. h., Disziplinen der ehemaligen Geisteswissenschaften, die unter dem Begriff Kulturwissenschaft eine neue Orientierung suchen und doch den Rahmen der Disziplin im Grunde bewahren, sind als solche in der Tat von den Cultural Studies weit entfernt. Und auch für die Kulturwissenschaft im Singular wäre es vielleicht unakzeptabel, sich mit den Cultural Studies einfach gleichzusetzen, denn sie haben ihrerseits ihren eigenen Problem- und Interessenkreis. Die beiden haben sich ja unter je nach Ländern spezifischen historischen, kulturellen, politischen, wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen entwickelt.
Trotz der Unterschiede ihrer historischen Entstehung scheint sich aber die Kulturwissenschaft im Singular den Cultural Studies anzunähern, soweit ich ihre Orientierung an der Humboldt-Uni aus dem Verzeichnis der Lehrveranstaltungen oder Informationen über ihre Projekte auf den Web-Seiten erfahren habe. Noch hinzuzufügen ist: sie sind beide auch dadurch zu charakterisieren, daß sie eine erkenntniskritische Perspektive zu der Frage haben, in welchem kulturellen, politischen und ideologischen Kontext die jeweiligen Disziplinen entstanden sind, sich entwickelt haben und jetzt existieren. Auch darin scheint sich ihre Nähe zu bestätigen. Doch, eine solche Kulturwissenschaft sollte vielleicht, wie schon gesagt, anders genannt werden.
Zum Schluß möchte ich kurz von meinen persönlichen Motiven sprechen, warum mich wissenschaftstheoretische Probleme in Deutschland interessieren, oder noch allgemeiner formuliert, was für eine Bedeutung solche Probleme für einen japanischen Forscher haben.
Der Perspektivenwechsel in den humanities ist eine internationale Erscheinung. Japan ist natürlich keine Ausnahme. &AUML;ußerlich ist das auch bei uns vor allem in Form der Universitätsreform sichtbar, in die ich mich auch verstrickt habe. In diesem Zusammenhang liegt es also nahe, daß auf Grund ähnlicher Probleme die Situation in Deutschland für Deutschlandforscher in Japan ein wichtiges Anliegen ist.
Aber was mich noch wesentlicher interessiert, rekurriert auf frühere, historische Vorgänge. Im Prozeß der Modernisierung in Japan hatte die Rezeption der deutschen Kultur neben der der französischen und englischen bekanntlich eine entscheidende Bedeutung. Bei den Gebildeten galt die deutsche Kultur sogar als Inbegriff der innerlichen Werte. So wurde sie äußerst idealisiert, und diese Idealisierung wurde in die Mentalität der Gebildeten tief verinnerlicht. Diese Situation scheint sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg im wesentlichen nicht geändert zu haben, obwohl es eine grundsätzliche Erziehungsreform gegeben hat. Und das wichtigste Bollwerk war natürlich Germanistik. Die meisten Germanisten beschäftigen sich - so habe ich das Gefühl - nur mit disziplinimmanenten Gegenständen und Theoriezusammenhängen, sie scheinen sich im großen und ganzen etwa der Frage nicht bewußt, von welcher historischen oder ideologischen Situation ihr Blick auf Deutschland bestimmt ist.
Die wissenschaftstheoretischen Diskussionen über die Kulturwissenschaft haben im Bezug auf diese Fragestellung eine herausragende Funktion: sie können für uns zum Ausgangspunkt für erkenntniskritische Reflexionen über unseren Blick auf die deutsche Kultur werden.